Was nährt mich?

Pilgernahrung

Pilgernahrung – das sind Wasser und Brot, Trockenobst und Nüsse. Aber alleine davon würden wir nicht satt auf unserer Reise. Wer aufbricht zu einer Pilgerwanderung hat sich diese Frage wahrscheinlich schon gestellt: Was ist meine Pilgernahrung? Was nährt mich? Wovon lebe ich?

Aufbrechen

Es ist doch interessant, dass die Wörter „aufbrechen“ oder „Aufbruch“ gebildet werden aus einem so harten Wortstamm: Brechen. Bruch. Da ist nichts Sanftes oder Heilendes in diesem Wort. Wer aufbricht, bricht mit dem Gewohnten. Wer aufbricht, trennt sich von seiner Komfortzone. „Ich bin dann mal weg“, schrieb Hape Kerkeling. Und tatsächlich: Für das ganze Umfeld, die Familie, den Freundeskreis, die Kolleginnen und Kollegen gilt: „Ich breche jetzt mal für eine Weile weg. Ich stehe nicht für euch zur Verfügung. Ich trenne mich für eine Weile von meinen Aufgaben und Terminen. Und ja: auch von euch.“

Deswegen ist der erste Schritt der wichtigste. In diesem Schritt liegt der Unterschied zwischen Bleiben und Aufbrechen, zwischen Gewohnheit und Neugier, zwischen Plan und Tat.

Veränderung

Wer sich auf eine Pilgerschaft begibt, weiß nicht, was ihn an der nächsten Kreuzung, in der nächsten Unterkunft erwartet. Wer pilgert lässt sich auf ein Abenteuer ein. Denn ganz ehrlich: Wer sich auf den Weg begibt, weiß noch nicht einmal mit Sicherheit, als wer er oder sie zurückkommen wird. Sicher ist nur, dass der Weg Spuren hinterlassen wird. Denn wer aufbricht, wer sich von der Natur, von den Begegnungen unterwegs und von der Begegnung mit sich selbst berühren lässt, wird verändert wiederkommen.

Das unruhige Herz

Das unruhige Herz ist die Wurzel der Pilgerschaft, hat Augustinus gesagt. Es ist die Sehnsucht, die uns aufbrechen lässt. Das Gefühl, dass da noch etwas sein könnte, etwas, das ich noch nicht kenne. Dass die letzte Antwort noch nicht gegeben ist. Dass mein Lebensweg doch bitte noch eine Wendung kennen möge, die mich weiterbringt.

Deswegen ist das Pilgern für viele ein Übergangsritual. Nach einem Verlust oder vor einem Neuanfang mit mir selbst in Berührung kommen. Mit einer Dimension, die größer ist als ich. Meiner Sehnsucht Raum geben in den Weiten der Natur, die uns den ewigen Zyklus aus Werden und Vergehen in jeder Knospe, jedem welken Blatt vor Augen führt.

Durststrecken

Auf Pilgerwegen (egal ob lang oder kurz) sollte man sich nichts vormachen: Es ist nicht jede Etappe oder Wegstrecke nur schön. Das Wetter ist nicht immer gut. Die Stimmung ebenso wenig. Es gibt Stunden und Tage, da (ver-)zweifelt man an dieser Idee und an diesem Weg.

Genau darum geht es beim Pilgern: Ich kann es deuten als Symbol für meinen Lebensweg – mit allen seinen Anstrengungen, Umwegen, Abkürzungen, Höhen und Tiefen, seinen Geschenken und Glücksmomenten. Und ich kann mir darüber Gedanken machen: Wie gelingt es mir, Durststrecken zu überwinden? Wie sichere ich die positiven Erfahrungen für schwierigere Zeiten? Was brauche ich, um vielleicht nicht gleich glücklich aber doch zufrieden zu sein? Was nährt mich? Was gibt mir Kraft?

Wegkreuze

Auf unserer Pilgerwanderung sind wir dem Wetter ausgesetzt: Wird es sonnig und heiß, regnerisch und stürmisch, eisig und rutschig? Der bange Blick zum Himmel gehört zu einer Fernwanderung wie die Wasserflasche und die Wanderkarte. Wie wird das Wetter? Für Bäuerinnen und Bauern ist das seit Jahrtausenden der bestimmende Alltag: Welche Ernte wird es uns bescheren? Wettergöttinnen und -götter gnädig zu stimmen war deswegen schon immer eine gute Investition. Und das setzt sich bis in unsere Zeit fort: Flur- und Wegkreuze erbitten gute Ernten und gesundes Vieh. Sie wurden errichtet, um der Bitte Nachdruck zu verleihen, verschont zu bleiben von Unwetter und Not. Es geht um nicht weniger als die Existenz. Es geht aber auch um ein wichtiges Zeichen: Ich vertraue. Ich weiß, dass ich ohne den Schutz einer größeren Macht hilflos ausgeliefert bin. Ich bedanke mich, wenn es gut geht. Und ich hoffe weiter, wenn es einmal nicht gut geht.

Den Wegkreuzen folgen heißt, sich in die Hoffnung und das Vertrauen der Menschen früherer Zeiten einzuschwingen. Und in ihr Wissen, dass wir die Welt nicht lenken können. Dass es etwas gibt, das größer ist als wir.

Wunder

Dass wir zwei Beine haben zum Gehen, Schultern zum Tragen eines Rucksacks (auch wenn sie wehtun), dass die Vögel für uns singen, dass die Blumen uns mit ihren Farben erfreuen, die Sonne scheint oder der Regen uns Leben schenkt: alles kleine Wunder! Wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn wir sie wahrnehmen, dann werden sie unser Leben nicht nur bereichern, sondern dann werden sie uns stärken und nähren auf eine Weise, die uns nie wieder loslässt.

Dankbarkeit

Pilgern kann Dankbarkeit lehren. Da habe ich zuhause gepackt und jedes Gramm abgewogen. Was ich da mit mir herumtrage, das ist ein wahrer Schatz. Der einzige, den ich jetzt und hier besitze. So bekommt jedes Teil, das ich Kilometer um Kilometer mit mir herumtrage, eine unglaublich große Bedeutung: das in der letzten Unterkunft gewaschene Shirt, die Handvoll Nüsse, die ich als eiserne Ration dabeihabe. Kleinigkeiten, die glücklich machen.

Wer schon einmal so gepilgert ist, der kennt diese kleinen Momente höchster Dankbarkeit: Zum Beispiel nach einem langen Tag in praller Sonne den Rucksack öffnen zu können und eine dünne langärmelige Bluse hinausnehmen als Schutz vor Sonnenstrahlen und Sonnenbrand: pures Glück!

Rückblick

Das Geschenk eines Pilgerweges: Am Ziel angekommen, darf ich zurückschauen auf meinen Weg, auf meine Ausdauer, meine Kraft und meine Zielgerichtetheit. Und dankbar sein für das, was mich genährt hat: die Sonne und mein Sonnenschutz, die Natur, das Vogelgezwitscher, das Lächeln, der Proviant und der Wasservorrat, die Ruhebank, die Aussicht, der Regen, die bequemen Schuhe … So gestärkt: Was sollte mir Angst machen?

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